Die Freien Demokraten stehen am Scheideweg: Mit einem neuen internen Strategiepapier, das Christian Lindner für die Misere der Partei indirekt bis direkt verantwortlich macht, hat der Kampf um die Deutungshoheit über die Berliner Ampel-Zeit eine neue Stufe erreicht.
Die Wahrheit ist komplexer: Während Lindner implizit zum Sündenbock gemacht wird, liegen Ursachen auch in tieferliegenden Zerwürfnissen und linksliberalen Fliehkräften innerhalb der FDP. Parallel öffnen sich Räume für neue liberale Bewegungen wie „Team Freiheit“.
Schuldzuweisung hausgemacht
Schon lange vor dem aktuellen Papier war klar, dass die FDP intern zwiegespalten ist. Der vielleicht entscheidende Kipppunkt war das berüchtigte „D-Day-Papier“ im Herbst 2024. Das interne Dokument, das an die Medien durchgestochen wurde, entwarf Szenarien für den Ausstieg aus der Ampel-Koalition und bediente sich militärischer Begriffe wie „offene Feldschlacht“. Skandal! Zumindest ein medial inszenierter. In der Sache ein Witz.
Die Veröffentlichung führte zumindest zu massiven Erschütterungen: FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai, der bis dato einen wieder stringenteren liberal-konservativen Kurs glaubwürdig vermittelt hatte, und der wenig bekannte Bundesgeschäftsführer Carsten Reymann mussten infolge der öffentlichen Debatte über das „Praktikanten-Papierchen“ (Zitat Lindner) zurücktreten. Schon damals zeigte sich, dass die Konflikte nicht primär mit den Koalitionspartnern SPD und Grünen geführt wurden, sondern mitten durch die FDP hindurch verliefen.
Ein weiterer entscheidender Konflikt entfaltete sich Anfang 2025 bei der Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz der Union. Zwar stimmte eine Mehrheit der FDP-Abgeordneten zu, doch auffällig war die Zahl der Nicht-Teilnehmer sowie die Abwesenheit prominenter Linksliberaler wie Johannes Vogel und Konstantin Kuhle. Dieses eigenmächtige Aussetzen einer zentralen Abstimmung zersetzte den inneren Zusammenhalt und wurde von parteiinternen Stimmen, darunter FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki, scharf kritisiert. Er sei „fassungslos über das Abstimmungsverhalten einiger meiner Fraktionskollegen“, insbesondere jener, die dem Fraktionskurs nicht gefolgt seien – und warnte: „Das wird unserer Partei im Wahlkampf nicht nutzen.“
Mehr als nur ein Führungsproblem
Inmitten dieser Vorgeschichte erscheint das neue strategische Papier, das Lindner für das Scheitern verantwortlich macht, als logische Konsequenz. Doch statt tragfähige Prozesse der Aufarbeitung einzuleiten, wird damit gezielt Verantwortung projiziert: Lindner wird isoliert, während „Durchstecher“ und Krisenverursacher innerhalb der Partei weitgehend unangetastet bleiben.
Die internen Konflikte manifestierten sich nicht nur in Abstimmungen, sondern auch in politischen Auseinandersetzungen. Bereits 2023 geriet Lindner wegen mangelhafter Distanzierung vom umstrittenen Heizungsgesetz der Ampel unter Beschuss – gerade weil ihm dafür offenbar Rückhalt aus den eigenen Reihen fehlte. Auch im Haushaltsstreit 2025 wurde er von allen Seiten attackiert: Die Grünen warfen ihm zu harte Sparpolitik vor, während Flügler innerhalb der FDP ihm mangelnde Kompromissbereitschaft vorhielten. Selbst Kritik von Friedrich Merz an Lindner wegen angeblich kopierter Union-Positionen zeigte: Eine klare Profilbildung wurde zur Herausforderung. Die interne Uneinigkeit pervertierte sie gar zum Risiko.
Ganz besonders deutlich wurde dies durch die öffentliche Kritik von Volker Wissing. Der Mann wurde zum Prototyp eines Parteigrüblers, der Lindner und die Regierungslinie offen in Frage stellte. Wissing war einflussreich genug, um eigene Narrative zu stricken – aber nicht mehr bereit, Teil der Partei zu bleiben. Mit seinem Austritt aus der FDP im November 2024 und dem Ausdruck „Ich möchte mir selbst treu bleiben“ erklärte er öffentlich seine Abkehr. Dass er dennoch im Kabinett blieb, interpretierten viele Beobachter als Zeichen, dass die eigentliche Krise nicht im Regierungsbündnis, sondern im Inneren der FDP lag.
Basis skeptisch von Beginn an
Sowohl die Basis als auch große Teile der FDP-Wählerschaft standen von Beginn an eher kritisch zur Ampel-Beteiligung. Schon die Mitgliederbefragung Anfang 2024 zeigte ein gespaltenes Bild: Rund 48 % stimmten für den Ausstieg, 52 % für den Verbleib, bei nur 36 % Beteiligung – ein klares Signal der Skepsis. In der Wählerschaft lehnten laut INSA sogar 77 % der FDP-Wähler die Ampel ab. „CL“ verteidigte den Eintritt dennoch als notwendig, um ein extremes Stillstandsszenario zu vermeiden und Handlungsfähigkeit zu sichern. Doch nun wird er von Teilen der Partei als Alleinschuldiger dargestellt – obwohl die Entscheidung einst gemeinschaftlich getroffen wurde und das Misstrauen in Basis und Wählerschaft lange dokumentiert war.
Bundestagswahlkampf: Staatsmann in FDP-Mission
Im Wahlkampf 2025 setzte Lindner dann auch „all in“ auf seine Person. Unter dem Motto „Alles lässt sich ändern“ präsentierte er sich auf bundesweiten Großflächenplakaten – in Schwarz-Weiß, mit ernster Mimik, klarer Entschlossenheit und Slogans wie „Alles geben. Auch für Deinen Job“ oder „Vater Staat ist nicht Dein Erziehungsberechtigter“. Seine Schwarz-Weiß-Plakate wirkten wie das letzte Aufgebot eines politischen Kämpfers, der alles riskierte, um den Liberalismus vor dem Untergang zu bewahren.
Mit Blick auf die existenzielle Bedrohung durch einen möglichen Nicht-Wiedereinzug und unter Nutzung seiner Position als FDP-Gesicht trat Lindner öffentlich auf wie ein Staatsmann in FDP-Mission – plakativ und persönlich inszeniert. Das Ergebnis ist bekannt: Trotz Lindners Strategie scheiterte die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde und flog aus dem Bundestag. Für die Liberalen bedeutet dieses Ergebnis nicht nur eine schwere Niederlage, sondern eine existenzielle Zäsur.

Und jetzt, nachdem Lindner seine ganze politische Führungskraft offenbarte und symbolisch die Last der Partei auf sich nahm, wird ihm intern die Hauptschuld zugeschoben. Es klingt irgendwie folgerichtig, ist zugleich aber Ausdruck einer nicht abgeschlossenen internen Aufarbeitung. Anders formuliert: Lindner als alleinigen Sündenbock darzustellen, ist billig und gratismutig. Das neue interne Strategiepapier, das ihn nun zur Hauptverantwortung erklärt, ignoriert, dass die Ampelbeteiligung 2021 einst von der gesamten Parteiführung – auch durch linksliberale Kräfte – mitgetragen wurde. Viele interne Kritiker richteten ihre Kritik nicht an Lindner allein, sondern an die Richtung, die Abweichler wie Vogel und Kuhle maßgeblich mitbestimmten. Das Papier ist damit weniger Aufarbeitung und vielmehr ein Versuch, Strukturen, die systemisch Fehler erzeugten, zu verschleiern, indem man sie symbolisch auf Lindner fokussiert.
Analyse des neuen Strategiepapiers: Daten oder Schuldzuweisung?
Das interne Papier, im Original wohl eine Powerpoint-Präsentation, offenbart sich als „nüchterne Wahlanalyse“. Auf über 30 Seiten werden Daten und Fokusgruppen zitiert, Wahlergebnisse der Jahre 2015 bis 2025 verglichen und „Lessons Learned“ formuliert. Offiziell laute das Ziel, die FDP zur „modernsten Partei Deutschlands“ zu machen. Doch eine weitere Stoßrichtung ist unverkennbar: Die Verantwortung für das historische Scheitern bei der Bundestagswahl 2025 wird maßgeblich bei Christian Lindner verortet.
Kernvorwürfe sind, die FDP habe in der Ampel nur kleine taktische Erfolge erzielt, aber keine großen Reformen umgesetzt. Statt klarer Missionen und einer Differenzierung zur Union habe die Partei mit „technokratischer Sprache“ und „werblich-weichgespülter Kommunikation“ Vertrauen verspielt. Fokusgruppen werfen der FDP sogar vor, sie habe „Bullshit erzählt“ und „wie eine Seifenoper“ gewirkt. Auch Lindners „Alles lässt sich ändern“-Kampagne wird unterschwellig adressiert, wenn von fehlender Glaubwürdigkeit und „leeren Versprechen“ die Rede ist.
Bemerkenswert ist jedoch, was in dem Papier nicht steht: Weder die offene Distanzierung prominenter Abweichler beim Zustrombegrenzungsgesetz noch das Verhalten von Volker Wissing im November 2024 werden thematisiert – Ereignisse, die die FDP-Basis zutiefst verunsicherten und das Bild innerer Zerrissenheit verstärkten. Stattdessen entsteht der Eindruck, als sei Lindner allein für die Misere verantwortlich. Aber der langjährige FDP-Chef hat die Ampel nicht im Alleingang gewählt – die ganze Parteiführung trug sie mit.
Das neue Papier verschweigt diese geteilte Verantwortung.
So wirkt das Papier weniger wie ein neutrales Analyseinstrument als wie eine strategische Verschiebung der Verantwortungsfrage. Die eigentlichen Fliehkräfte innerhalb der FDP bleiben weitgehend unerwähnt, während Lindner zum Bauernopfer stilisiert wird. Damit wird die dringend notwendige Aufarbeitung verschoben: weg von den strukturellen Problemen und hin zu einer Personalisierung, die der Partei kurzfristig Erleichterung verschafft, langfristig aber keine Lösung bietet, Motto: „abhaken und weiterlaufen“.
Liberale auf Heimatsuche
Das parteiinterne Zaudern nach der verlorenen Bundestagswahl führte jedenfalls zu einem Vakuum. Mit Frauke Petrys „Team Freiheit“ formierte sich jüngst eine neue Bewegung im liberal-konservativen Raum, die danach strebt, mindestens das Vakuum zu füllen. Mit wirtschaftsliberalen Kernforderungen, einem konservativen Gesellschaftsbild und klarer Abgrenzung zur früheren Ampelpolitik will die Bewegung jene Mitglieder und Wählerinnen und Wähler ansprechen, die sich von der FDP nach wie vor enttäuscht zeigen.
Zuletzt zeigten Medienberichte Petry bei einem Treffen des Verbands „Unternehmer für Freiheit“ auf Schloss Ettersburg mit Thomas Kemmerich (FDP Thüringen) und Albert Duin (FDP Bayern). Auch wenn die Bewegung bislang eher medial als organisatorisch Gewicht entfaltet, zeigt die Resonanz, dass es im liberal-konservativen Lager einen spürbaren Suchprozess nach neuer politischer Heimat gibt. Politische Beobachter sehen hier bereits eine potenzielle Konkurrenz im Wählermilieu, auch wenn konkrete Übertritte von FDP-Ortsverbänden bislang nicht dokumentiert sind.
Richtungsstreit: Risiko und Chance
Die FDP, die nun vom ehemaligen Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion Christian Dürr und der neuen Generalsekretärin Nicole Büttner geführt wird, steckt weiterhin in einer Orientierungskrise und einem ungelösten Richtungsstreit. Das aktuell durchgestochene Strategiepapier, das Lindner den schwarzen Peter zuschiebt, ersetzt keine echte Auseinandersetzung mit den Fliehkräften innerhalb der Partei. Lindner mag symbolisch gefallen sein, doch die Kernprobleme – Fragmentierung in der Führung, Entfremdung der Basis und fehlende klare Linie – bleiben unerfasst.
Unterdessen zieht Team Freiheit zunehmend vor allem innerhalb der FDP erste Aufmerksamkeit auf sich – noch unvorbelastet, ohne Skandale, aber mit bisher klarer liberaler Haltung. Ein entscheidender Punkt steht infrage: Will die FDP ihre DNA verteidigen – oder wird sie zusehen, wie andere jene Lücke besetzen, die sie selbst offengelassen hat? Wer Lindner jetzt zum Bauernopfer macht, verschleiert, dass die innerparteilichen Bruchlinien schon lange vor seiner Person existierten. Solange Wahrheiten nicht intern benannt und verarbeitet werden, droht die FDP, zwischen Union, Grünen und neuen liberal-konservativen Bewegungen zerrieben zu werden.
Frei nach Captain Jean-Luc Picard (Star Trek) möchte man rufen: „Dürr und Büttner, bitte beschleunigen Sie!“
Lesestoff:
- Financial Times: German liberals in turmoil over ‚D‑Day‘ plot to end coalition
https://www.ft.com/content/bfd2126c-4384-4311-abbf-6b2d1df1de12 - Frankfurter Rundschau: Interne FDP-Chats durchgesickert – Kubicki tritt gegen Abweichler nach, Lindner will Deutungsschlacht
https://www.fr.de/politik/interne-fdp-chats-durchgesickert-kubicki-tritt-gegen-abweichler-nach-lindner-will-deutungsschlacht-zr-93548884.html - n‑tv: FDP zieht Schlussstrich unter Ära Lindner
https://www.n-tv.de/politik/FDP-zieht-Schlussstrich-unter-Ara-Lindner-article25945591.html - Handelsblatt: Liberale analysieren Strategief ehler in der Lindner-Ära
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/fdp-liberale-analysieren-strategiefehler-in-der-lindner-aera/100146457.html - t‑online: Haushalt 2025 – Grüne mahnen Lindner in neuem Streit, FDP kontert
https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/innenpolitik/id_100461032/haushalt-2025-gruene-mahnen-lindner-in-neuem-streit-fdp-kontert.html - Die Welt: Merz wirft Lindner Kopieren von CDU‑Positionen vor
https://www.welt.de/politik/deutschland/article254326456/Merz-wirft-Lindner-Kopieren-von-CDU-Positionen-vor.html - ZDF: FDP zwischen Lindner, Migration und AfD-Strategie – Merz mischt sich ein
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/fdp-lindner-migration-afd-strategie-merz-100.html - Focus Online: Team Freiheit – Warum Petrys neue Partei der FDP gefährlich werden kann
https://www.focus.de/politik/deutschland/team-freiheit-warum-petrys-neue-partei-der-fdp-gefaehrlich-werden-kann_id_279132578.html - Tagesschau.de: Nach Ampel-Bruch: Wissing tritt aus FDP aus und bleibt Minister
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/wissing-austritt-fdp-100.html - Bild.de: Alles lässt sich ändern – Retten diese Plakate die FDP?
https://www.bild.de/politik/inland/alles-laesst-sich-aendern-retten-diese-plakate-die-fdp-6758346ae1414a21652cc716.html - Tagesschau.de: FDP setzt im Wahlkampf alles auf Lindner
https://www.tagesschau.de/inland/fdp-wahlkampf-102.html - Deutschlandfunk: Union gewinnt Wahl – FDP nicht mehr im Parlament
https://www.deutschlandfunk.de/union-gewinnt-wahl-afd-verdoppelt-ergebnis-fdp-nicht-mehr-im-parlament-100.html - Bundeswahlleiterin: Vorläufiges Wahlergebnis Bundestagswahl 2025
https://www.bundeswahlleiterin.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2025/27_25_vorlaeufiges-ergebnis.html - Bild.de (INSA-Umfrage): 77 % der FDP-Wähler gegen Ampel
https://www.bild.de/cmsid/667ac26e8d4fb524a79e546c - Frankfurter Rundschau: Ampel-Aus – Mehrheit sieht FDP in der Schuld
https://www.fr.de/politik/ampel-aus-mehrheit-deutschland-fdp-schuld-koalition-spd-gruene-umfragen-zr-93400160.html - Tagesschau.de: Deutschlandtrend September 2024 – Unzufriedenheit mit Ampel
https://www.tagesschau.de/inland/deutschlandtrend/deutschlandtrend-schuldenbremse-bsw-afd-102.html - Internes Strategiepapier der FDP-Bundesgeschäftsstelle: „Was ist bei uns Freien Demokraten in den letzten Jahren schiefgelaufen?“ (PDF, August 2025)